Ich habe unangemeldeten Besuch. Mein Schatten mal wieder.
Sie macht sich nicht die Mühe anzuklopfen, sondern steht einfach auf einmal in der Küche und durchwühlt den Kühlschrank.
„Wirklich?“ fragt sie vorwurfsvoll als sie mich sieht. „Naturtrüber Apfelsaft? Das ist alles? Wo ist der Wodka?“
„Hast du das letzte Mal ausgetrunken“ entgegne ich im gleichen Ton.
Wir mustern uns kurz voller Abscheu. Sie sieht gut aus. Wie immer.
„Du siehst beschissen aus“, sagt sie.
Ich zucke nur mit den Schultern.
„Kann schon sein“ sage ich. Ich halte mich an meinen festen Vorsatz, mich nicht von ihr provozieren zu lassen.
Aber sie macht es mir nicht leicht. Natürlich nicht.
„Wußte gar nicht, dass man von Langeweile Falten kriegen kann“, meint sie nebenbei und schnuppert an dem Johannisbeerlikör, der vom letzten Geburtstag übrig geblieben ist.
„Wollen wir nicht mal wieder was zusammen unternehmen?“ fragt sie dann so nebenbei, als wäre es keine Falle.
Ich fühle mich kurz geschmeichelt.
„Keine Zeit“, behaupte ich abweisend.
„Blödsinn. Du traust dich einfach nicht und bist zu alt und zu… langweilig geworden.“
Raffiniert war mein Schatten noch nie. Aber hartnäckig.
„Wir könnten ein Auto klauen und Eichhörnchen überfahren“, schlägt sie vor, als hätte sie mich nicht gehört.
„Nein, danke.“ Ich wundere mich selbst, wie kalt ich klingen kann. Ihr ist das egal.
„Wie wäre es mit Drogen?“
Ich schnaube nur abfällig.
„Oder wir ziehen los und schänden ein paar Jungfrauen.“
„Wie, um alles in der Welt kommst du auf so was? Und außerdem bin ich verheiratet.“
„Echt, immer noch?“
Sie ist ehrlich überrascht, was mich jetzt doch mehr verärgert als es sollte.
„Und was die Jungfrauen betrifft… erinnerst du dich nicht mehr an den Abend im…“, fährt sie mit einem dreckigen Grinsen fort. Dreckig grinsen kann sie ausgezeichnet.
„Nein, ich erinnere mich nicht mehr“, unterbreche ich sie lauter als beabsichtigt. „Und der junge Mann hatte keinerlei Grund, sich geschändet zu fühlen!“
Wir mustern uns abermals und sind ganz kurz davor, in Lachen auszubrechen.
Aber der Moment verfliegt.
„Wenn du dann bitte…“, sage ich scharf.
Sie wirft mir eine Kusshand zu, schlurft zurück in die Dunkelheit und schlägt die Tür hinter sich zu.
Ich stehe mit der Flasche Johannisbeerlikör da und flüstere: „Manchmal vermisse ich dich, du dumme Schlampe.“
Ich weiß, das würde ihr gefallen.

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